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Gottliebe Bennona Schröder
* 11. 12. 1849 † 18. 04 1918
Geboren ohne Arme und Beine
Gottliebe, so ihr Rufname, kam als erste Tochter des Tischlermeisters Johann Schröder am 11. Dezember 1849 mit zwei handgroßen verkrüppelten Füßen am Unterleib und einem kurzen, kaum zwölf Zentimeter langen Armstummel an der linken Schulter in Thalbach zur Welt. Groß war das Entsetzen der Eltern über die „Missgestalt“ ihres ersten Kindes. Freunde und Nachbarn rieten den Eltern, das bejammernswerte Kind auf schmerzlose Weise töten zu lassen. Doch dem widersprach der damalige Landesphysikus. und so blieb das Kind am Leben. Trotz seiner Hilflosigkeit wurde aus dem Sorgenkind ein vollwertiges Mitglied der Familie, und als in der Umgegend bekannt wurde, welches Unglück der Tischlerfamilie widerfahren war, erhielt der Vater viele Aufträge zur Anfertigung von Möbeln, so dass ein bescheidener Wohlstand Einzug hielt. Das „Gehen" erlernte Gottliebe mit drei Jahren. Durch ein geschicktes Hin- und Herbewegen des Körpers gelang es ihr, sich fortzubewegen. Die Holztreppe im 1. Stockwerk rutschte sie mit Abstützen des Armstummels zwischen dem Geländer abwärts; aufwärts musste sie getragen werden. Auf Spielkameraden brauchte sie nicht zu verzichten. Sie spielte mit ihnen vorm Haus und auf der Wiese. War sie einmal im Spieleifer hingefallen, machte ihr das Aufstehen ohne Hilfe keine Mühe. Sie gab sich nach Art eines Stehaufmännchens einen Schwung und stand wieder auf. Als junges Mädchen widmete sie sich der Wartung und Betreuung der Kleinkinder aus der Nachbarschaft. Wenn deren Mütter dem Scheuern und Waschen nachgingen, setzte man sie einfach den Pflegebefohlenen in die Wiege, und unter Singen versetzte sie die Wiege durch Stöße nach links und rechts ins Schaukeln, bis die Kleinen eingeschlafen waren. Zur Schule nach dem benachbarten Reinsdorf (Thalbach mit Irchwitz war noch nach dort eingeschult) brachten sie ihre Schulkameraden. Man setzte sie in ein Wägelchen, und im Galopp ging es über Stock und Stein durch Wiese und Flur der Schule zu. Im Winter wurde sie in Tücher gehüllt und von größeren Schülern zur Schule huckepack getragen. Sie beteiligte sich sehr rege am Unterricht und lernte lesen und schreiben. Die Anfangsgründe des Schreibens brachte ihr der Vater bei. Er schnitzte ihr ein angepasstes Schreibgerät und steckte es ihr zwischen die linke Schulter und dasKinn, und so entwickelte sie sich zur besten Schreiberin ihrer Klasse. Sie besaß ein gutes Gedächtnis, eine rasche Auffassungsgabe und ein gutes Denkvermögen. Religiöse Schriften waren ihre Hauptlektüre. Sie war voll Gottvertrauen, innerer Seelenruhe und Freudigkeit. Das in der Schule Gelernte war ihr bis ins hohe Alter noch geläufig. Ihrem Lehrer Herrn Gasteyer bewahrte sie bis ins hohe Alter ein gutes Gedenken. Im Besitz aller Zähne bediente sie sich eines Griffels, der oben breit war und mit den Zähnen gehalten und geführt würde.
Gottliebe Bennona Schröders Eintrag in ein Poesiealbum im Jahre 1916:
„Im Glück nicht jubeln und im Sturm nicht zagen,Das Unvermeidliche mit Würde tragen,Das Böse hassen und am Schönen sich erfreu´n,Das Leben lieben und den Tod nicht scheu´n,An Gott und die Zukunft glauben,Heißt Leben, heißt dem Tode steht’s sein Bitteres rauben.
Weibliche Handarbeiten erlernte sie mit dem Munde. Sie konnte nähen, Bordüren. häkeln und sticken mit Hilfe der Lippen, Zähne und Zunge. Die größte Kunstfertigkeit zeigte sie beim Knüpfen eines Knotens. Beim Einfädeln des Zwirnfadens steckte sie die Nähnadel mit den Lippen ins Nähkissen und zog den Faden gleichfalls mit den Lippen und der Zunge durchs Nadelöhr: ein Kunstgriff, den das Kind schon mit sechs Jahren erlernte. (Man versuche das Kunststück selbst einmal!) Sie fertigte auch Perlenstickereien an für Lampenuntersetzer. Klingelzüge und Täschchen. Das Zubereiten der Speisen versahen ihre Angehörigen. Mundgerechte Stücke Brot und Fleisch erfasste sie vom Tisch mit den Lippen. Die Tasse nahm sie mit den Zähnen hoch und kippte sie so sicher, dass. kein Tropfen daneben ging. Beim Fegen der Stube klemmte sie sich den Stiel des Kehrbesens unter den kurzen Armstumpf. Das Verschieben der Kochtöpfe auf dem Herd geschah auf gleiche Weise mit dem Schürhaken. Wenn sie frühmorgens erwachte, schwang sie sich hoch und hüpfte vom Bettrand auf die Diele. Das Aufplumpsen war für ihre Angehörigen das Zeichen ihres Erwachens. Mit dem 17. Lebensjahr trat für Gottliebe ein entscheidender Wandel ihres bisherigen Lebens ein. Ein Schausteller hatte sie als Profit bringendes Objekt seines Programms entdeckt. Er zog mit ihr in den 70er bis 90er Jahren auf Vogelschießen, Jahrmärkten, der Leipziger Messe und anderen Veranstaltungen durch Deutschland, Österreich, Belgien, Holland, Frankreich und die Schweiz. So verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt. Über den letzten Schausteller klagte sie, er habe sie aufs ärgste betrogen. Vor Schädigungen durch gewinnsüchtige Schausteller bewahrte sie mit Hilfe des damaligen Landratsamtes ihr Reinsdorfer Seelsorger, Pfarrer Schwarz. Etwa mit Erreichung des 50. Lebensjahres gab Gottliebe das ruhelose Umherwandern einer Schaustellertruppe auf und lebte fortan bei Verwandten in Thalbach, die sie auch pflegten. Sie hatte noch zwei jüngere gesunde Schwestern. Nach dem Tod der einen führte sie den Haushalt des Schwagers, soweit sie dazu in der Lage war. Trotz ihres häufigen Aufenthaltes in den zügigen Schaubuden erfreute sie sich bester Gesundheit und war bis in ihr hohes Alter weder krank noch bettlägerig. Sie zeigte zu jeder Zeit großes Interesse am Tagesgeschehen und war sehr belesen. Von der wohl „absonderlichsten Missgeburt“ in unserer Greizer Heimat berichtete der ehemalige Oberlehrer und Geologe Leander Macht aus Greiz - Pohlitz. in der Festschrift des .“Vereins der Naturfreunde Greiz 1876 bis 1926" schrieb er über die am 18. April 1918 in Thalbach bei Irchwitz verstorbenen Gottliebe Bennona Schröder: „Ich erinnere mich eines Besuches vor dem 1. Weltkrieg in Begleitung meines Vaters in ihrem Geburtshaus Thalbach Nr. 6. Ich schaute zu, wie sie für meine Schwester ein Erinnerungsblatt schrieb. Von ihrem Thalbacher Neffen Gotthold Pfeifer, der mit ihr bis zum 1. Weltkrieg im Haus seiner Eltern wohnte, erfuhr ich noch folgende Einzelheiten: Gottliebes Vater Johann-Schröder stammte aus Zoghaus, wo er das Tischlerhandwerk ausübte. Die strengen Zunftbestimmungen der Greizer Tischlerinnung hinderten ihn, sich, nach seiner Verheiratung in der Stadt niederzulassen, so dass er gezwungen war, sein Handwerk in dem abgelegenen Thalbach auszuüben. Das Haus Nr. 6 ist Gottliebes Geburts- und Sterbehaus. Die Reinsdorfer Schule besuchte Gottliebe sieben Jahre. Im Sommer kam es vor, dass das hüftlose Wesen bei sausender Fahrt aus dem Wägelchen fiel. Ohne viele Umstände setzten sie ihre Schulfreunde wieder in den Roller, und weiter rollte die Fuhre mit „Hallo!" der Schule zu. Sie erledigte nicht nur ihre eigenen Schulaufgaben. Auch der Aufgaben ihrer ,,Fuhrleute" widmete sie sich oft, wenn diese drohten, ihre Fuhrdienste einzustellen. Vor dem Schlafengehen brauchten ihr die Verwandten nur die Kleidung aufzuknöpfen, dann begab sie sich zu Bett im ersten Stockwerk. Dabei schwang sie sich auf einen Koffer und ließ sich ins Bett fallen. Schließlich erfasste sie mit den Zähnen die Bettdecke und deckte sich zu. Einmal soll sie sich einen Zahn selbst gezogen haben, indem sie in die beiden Enden einer Schnur je eine Schlinge machte. Die eine schlang sie mit Lippen und Zunge um den Zahn, die andere hängte sie an die Türklinke. Von der Fußbank, auf die sie sich zuvor geschwungen hatte, ließ sie sich fallen, und der Zahn, offenbar schon locker, war gezogen.“
Gottliebe Bennona Schröder hatte ein schweres, ein ungewöhnliches Schicksal zu tragen. Wie sie es trug und meisterte, verdient Bewunderung!
nach Rudolf Schramm |
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