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Der Wind zu Irchwitz

Der Wind zu Irchwitz

 

Nun vermag wohl der Kühnste nicht zu behaupten, dass er jemals einen Wind zu Gesicht bekommen hätte, und doch wird von einem alten Greizer berichtet, der genau dieses Schauspiel mit eigenen Augen gesehen haben will. Als nach den Kriegen zu Beginn des 19.Jahrhunderts auch zwischen Österreich und Frankreich wieder Frieden herrschte, mussten viele Soldaten ihren Hut nehmen und versuchen ein bürgerliches Leben zu führen. Betroffen von dieser Veränderung war auch ein alter Füsilier, der im reußischen Regiment an der Seite der Österreicher Dienst geleistet hatte, nun aber sein Brot nicht mehr vom Militär erhielt. Mehr schlecht als recht schlug er sich mit Tagesdiensten durchs Leben. Häufig blieb er für mehrere Tage bei einem Verwandten in Irchwitz. Dieser war Zeugmacher und bestellte übers Jahr neben seiner täglichen Arbeit im Hause noch zwei kleinere Felder. Dabei ging ihm der ausgemusterte Füsilier willig zur Hand, auch wenn dieser nach wenigen Tagen Arbeit häufig wieder nach Freiheit suchte und so wie er gekommen war, nur mit Stock und Bündel das Dorf verließ. Eines Abends hatte er wieder Einzug im Hause seines Verwandten gehalten, und nachdem die Ziegen und Schafe versorgt waren und das Schwein frisches Wasser hatte, setzte er sich vor die Tür, steckte seinen Ulmer (Tabakspfeife) an und ließ den lieben Gott einen frommen Mann sein. Wie er so saß und an die alten Zeiten dachte, hob plötzlich ein Wind an, dass es ihm Angst wurde. Gerade noch konnte er seinen alten Hut retten, da schlug auch schon die Tür zur Scheune auf, und das frische Heu wirbelte in die Luft. Doch genauso schnell wie der Wind gekommen war, hatte er sich auch schon wieder gelegt. Nachdem die notwendigsten Aufräumarbeiten getan waren, stand der Mond bald hoch am Himmel. Da aber die Nacht lau war, zog es den Alten bald wieder vor die Tür. Er setzte sich aneben die Stelle, an der er schon am frühen Abend Entspannung gesucht hatte, zündete die Pfeife an und stieß genüsslich den Rauch durch die weit geöffneten Nasenflügel in die schwarze Nacht. Als das Licht de Mondes auf die ihm gegenüberliegende Wand fiel, sah er eine Gestalt sitzen. Er fragte: "Wohin des Weges?" aber die Gestalt blieb stumm. Er fragte nach Namen und Haus, allein der Fremde regte sich nicht. Da stand der Alte auf und ging auf die Erscheinung zu. Wie staunte er aber, als er bemerkte, dass diese weder Arme noch Beine hatte. Der Kopf, der einem riesigen Kürbis ähnelte, saß statt auf einem Hals auf einer breiten Krempe, die durch ein festgezurrtes Band viele feine Falten bildete. Jetzt erst bemerkte er, dass der ganze Körper nichts anders warals ein großer grauer Sack. Im übergroßen Kopf fielen ihm zwei feurige Augen auf. Noch auffälliger war freilich der riesige Mund, der bei jedem Atemzug sich zu einem Trichter zuspitzte, beim Ausatmen aber breit über den ganzen Kopf auslief. Bei all dem war nur wenig Zeit vergangen, und als der Füsilier zufällig gegen den Sack stieß, vernahm er ein starkes Zischen, dass ihm der Hut vom Kopf fiel. Als er ihn aufgehoben hatte, war die Gestalt verschwunden. Nur die Luft schien leicht zu vibrieren. Von all dem hatte der Hausherr nichts bemerkt, und als der Füsilier ihm davon erzählte, schrieb er es der Flasche zu, die jener ständig bei sich trug. Die Zeit ging ins Land, und der Hausherr überließ seinem Verwandten für mehrere Tage das Haus, um seine Waren zu verlegen. Nachdem die Arbeit des Tages erledigt war, wollte der ausgeschiedene Soldat wieder seine Pfeife anzünden; allein wenn der Kien Feuer hatte, blies der Wind es sofort wieder aus. Nachdem so mehrmals der Versuch fehlgeschlagen war, die Pfeife in Feuer zu setzen, drehte sich der Alte um und erschrak, als er wieder die große graue Gestalt erkannte. Diesmal erschien sie ihm noch größer und mächtiger als bei seiner ersten Begegnung und auch das Atmen erschien ihm weit heftiger. Wütend über die unzähligen Versuche zu Feuer zu kommen, warf er einen großen Stein nach dem Fremden. Dieser traf voll auf dessen Körper, der sich unter lautem Tosen entlud und das ganze Haus zu verwüsten schien.
Als am anderen Morgen die Nachbarn den Unglücksort besahen, war weder von einem Fremden noch von dem Füsilier etwas zu sehen. Einheimische wollten aber in jener Nacht beobachtet haben, wie ein Sturm von Irchwitz auf die Stadt zurollte und eine hagere Gestalt vor sich her trieb.
Wenn an heißen Sommerabenden Wolken am Himmel aufziehen, scheint es oft, dass eine große Wolke die Züge unseres alten Füseliers trägt, der in der einen Hand eine lange Muskete hält, in der anderen aber einen Fidibus, der ständig hin- und her schwingt. Wenn jedoch der Fidibus mit seiner Spitze die Tabakspfeife fast berührt, hebt ein Sturm an, und aus den Wolken fallen plötzlich Regentropfen.

nach Dr. Marko Schlieven


 
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