Die Rede des Bürgermeisters Dr. Andreas Hemmann zum Volkstrauertag am 13. November 2005 in Irchwitz:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie sehr herzlich hier vor dem Kriegerdenkmal in Irchwitz.
Alljährlich Mitte November begehen wir in Deutschland den Volkstrauertag, an dem der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht wird. Ganz besonders symbolisiert dieser Tag die Trauer um die Toten zweier Weltkriege, an denen unser Volk beteiligt war. Auch wenn der zweite Weltkrieg vor nunmehr 60 Jahren endete: der Schmerz über den Verlust der Eltern, Großeltern oder eines sonstigen Verwandten ist für viele von uns immer noch gegenwärtig.
Was wäre eigentlich wenn?
Was wäre, wenn heute einfach niemand eingeladen hätte, wenn einfach niemand an die Gedenkfeier am heutigen Morgen erinnert hätte. Was wäre, wenn es halt nicht in unseren Kalendern stünde?
Würden denn noch viele an einen Volkstrauertag denken? Würden sie überhaupt etwas vermissen, wenn heute eben nichts – nichts anderes als ein ganz normaler Sonntag wäre?
Der Monat November erinnert uns mehr als jede andere Zeit des Jahres an das irdische Vergehen. Wir richten unsere Gefühle und Gedanken in besonderem Maße in die Vergangenheit. Wir halten Zwiesprache mit allen, die einmal vor uns und mit uns gelebt und die wir nicht vergessen haben. Die Toten sterben, wenn sie vergessen werden, zum zweiten Mal.
In diese sehr persönliche Besinnung eingebettet ist das gemeinschaftliche Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, zu dem wir uns in jedem Jahr am Volkstrauertag zusammenfinden.
In seiner Gedenkrede zum ersten allgemeinen Volkstrauertag am 5. März 1922 im Deutschen Reichstag sagte der Reichstagspräsident Paul Löbe u. a.: ein Volk, das seine Toten ehrt, ehrt sich selbst und ... wird daraus die Kraft schöpfen ..., den Weg zu neuem Leben, zum hellen Tag zu suchen. Ein Volk, das seine Toten ehrt, wird ... ein gemeinsames Band schlingen um viele Seelen, denen dasselbe Leid widerfuhr, und wird dieses Band auch ausdehnen auf die Mütter an der Wolga und am Tiber, deren Schmerz um den nicht mehr heimgekehrten Sohn nicht minder ins Herz sich fraß als der Mutter an der Donau und am Rhein ...“.
Dennoch stellt sich die Frage: Warum ein Volkstrauertag? Würden nicht die allgemeinen kirchlichen Totengedenktage „Allerseelen“ und „Totensonntag“ genügen? Welchen Sinn hat ein solcher Tag des gemeinschaftlichen Gedenkens?
Man wird es einem Teilnehmer des Krieges nicht verdenken, wenn er insbesondere seiner vielen gefallenen Freunde und Kameraden gedenkt. Sie waren junge, hoffnungsvolle Menschen, jeder ein liebender und geliebter Teil seiner Familie, jeder ein Mensch in seiner Einmaligkeit, Menschen mit dem gleichen Recht Leben und persönlicher Lebenserfüllung wie die, die überlebt haben, und wie die, die seitdem nachgewachsen sind. Sie haben das Leben, von dem sie träumten, nicht leben dürfen.
Angesichts der beiden furchtbarsten Kriege, die die Weltgeschichte bisher erlebt hat, gestatten Sie mir dazu zunächst eine nüchterne Bilanz:
Vor 91 Jahren begann der erste Weltkrieg. In den Krieg führenden Ländern waren über 10 Millionen Tote zu beklagen, über 21 Millionen wurden zu Kriegsbeschädigten.
Vor 66 Jahren begann der zweite Weltkrieg. Die unfassbare Bilanz dieses mörderischsten aller Kriege und einer Menschen verachtenden Gewaltherrschaft: Über 55 Millionen Tote und fast 35 Millionen Kriegsversehrte.
Aber was bedeuten diese nüchternen Zahlen? Können Zahlen überhaupt etwas aussagen über die dahinter stehenden Schicksale der Betroffenen? Was berühren uns die Toten vergangener Jahre, die vernarbten Wunden, das vor Jahrzehnten erlittene und hinterlassene Leid? Sollten wir, die Überlebenden, es uns nicht bequemer machen und die lästigen Erinnerungen verdrängen? Und was geht das alles eigentlich die nachfolgende Generation an?
Die Fähigkeit und Bereitschaft, um die Toten zu trauern, auch zur kollektiven Trauer in der Lebens- und Schicksalsgemeinschaft, ist ein untrennbarer Teil der Würde des Menschen. Dazu gehört auch die Trauer um die, die wir nicht persönlich kennen, auch die Opfer der ehemaligen Feinde.
Grenzüberschreitende Trauer ist die Kraft, die ehemalige Feinde versöhnt und verbindet. Und aus der Trauer erwächst eine bleibende Verpflichtung der Lebenden. Die gefallenen und vermissten Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft Verstorbenen, die im Bombenkrieg Getöteten, die bei Flucht und Vertreibung den Tod fanden, die im Widerstand oder als Opfer eines Menschen verachtenden Regimes ihr Leben lassen mussten, die Opfer der Verfolgung aus politischen, religiösen und rassischen Gründen, gleich, wo sie gekämpft und gelitten haben, sie verpflichten uns, in der Gegenwart und Zukunft dafür zu wirken, dass wir nicht gegeneinander sterben, sondern miteinander leben.
Ohne die Erinnerung an die schrecklichen Irrwege der Vergangenheit gibt es keine Versöhnung und keine gemeinsame friedliche Zukunft.
Wir alle, auch wer nicht in individueller Schuld steht, sei es, dass er auch in einer verführten Welt immer menschlichen Anstand bewahrt hat, sei es, dass er einer nachgeborenen Generation angehört, wir alle bleiben dicht eingebunden in eine kollektive Mitverantwortung für Geschehenes und Zukünftiges.
Wir wissen: Hass, Grausamkeiten und Unterdrückung hat es zu allen Zeiten und überall gegeben und gibt es auch heute vielfältig in der Welt. Die Menschennatur ist nicht nur zu edlen Taten, sondern auch zu Untaten fähig. Und aus leidvoller und immer neuer Erfahrung wissen wir, zu welchen Untaten verführte und fanatisierte Menschen fähig sind.
Seit 1945 hat es in der uns umgehenden Welt bereits mehr als 160 neue Kriege gegeben. Bald wird die Zahl der Opfer des zweiten Weltkrieges überstiegen sein. Krieg ist die Bankrotterklärung der Politik, Gewalt nur möglich, wo Freiheit und Menschenwürde nicht als oberstes Gesetz des menschlichen Zusammenlebens gelten.
Uns Menschen ist der Frieden des Paradieses nicht geschenkt, moralische Vollkommenheit ist nicht zu erreichen. Es gibt Zeichen der Hoffnung. Dennoch, wir bleiben gefährdet.
Wenn es ein Vermächtnis der Toten an die Lebenden gibt, dann dies: Die Herstellung, Bewahrung und Verteidigung desFriedens ist die höchste Kunst der Politik. Menschenwürdiges Leben ist nur in Frieden und Freiheit möglich. Dies ist unsere Aufgabe heute, morgen und übermorgen. Erst recht in diesem Jahr, das weltweit zum „Jahr der Versöhnung“ erklärt wurde.
Hier gut aufzupassen, sehr differenziert, wohl überlegt und vor allem mit aller erdenklicher Umsicht ans Werk zu gehen hat oberste Priorität und ist genau das, was wir hier vor unserer Haustür tun können.
Alle Menschen guten Willens gilt es zu sammeln, gleich welchen Geschlechts, gleich welcher Nation und ganz gleich welcher Religion. Alle Menschen guten Willens für die Sache des Friedens und der Freiheit zu gewinnen, damit uns Friede und Freiheit auf ewig erhalten bleiben, auch daran ermahnt uns der Volkstrauertag dieses Jahres.
Es ist ein Tag, an dem wir an die Opfer von damals denken, damit es zukünftig keine mehr geben muss. Es ist ein Tag, der uns ermahnen möchte, damit alte Fehler nicht noch einmal gemacht werden. Es ist ein wichtiger Tag, heute wichtiger denn je.
Für uns als Stadt Greiz bedeutet Kampf gegen das Vergessen unter anderem, dass wir uns um die insgesamt 19 Kriegerdenkmale kümmern, für die wir verantwortlich sind. Das Denkmal hier am Teichplatz wurde am 23.07.1922 feierlich der Öffentlichkeit übergeben. Es trägt die Namen von 102 Irchwitzern, die im ersten Weltkrieg ums Leben kamen. In den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde es etwas verändert, u. a. ergänzte man die Jahreszahlen des zweiten Weltkrieges.
Infolge der natürlichen Verwitterung des Gesteins waren die Namen nur noch schwer zu lesen. Daher erhielt die Firma Steinmetz Kahnt aus Greiz den Auftrag zur Sanierung des Denkmals. Die Kosten liegen bei ca. 7.500,00 Euro. Es handelt sich um eine Aufgabe im Sinne des Volkstrauertages und der Verpflichtung unserer Stadt.
Dr. Thomas am 23.07.1922: „Ich übernehme das Denkmal auch mit dem festen Versprechen der Stadt, es zu hüten, zu schützen und zu pflegen, das es allezeit eine Stätte weihevollen Gedenkens an die Opfer des Krieges, eine Stätte der Erinnerung an die schwere Zeit des Krieges, eine Stätte der Mahnung für das jetzige und für künftige Geschlechter sei.“
Dieses Vermächtnis gilt es fortzuführen.
Dr. Andreas Hemmann, Bürgermeister der Stadt Greiz
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