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Sandmeer, Kiefernmeer, nichts mehr

 - von einem Irchwitzer, der auszog sein sozialistisches Heimatland verteidigen zu müssen -

 

Kapitel 3 - Einkleidung und Abtransport

 

Die Schlange vor der Einkleidungsbaracke scheint ewig. Irgendwie fühle ich mich zwischen ungeduldig und gleichgültig hin und her gerissen. Einerseits ist es völlig egal, wie lange die Zeremonie wohl dauern wird, ich kann ja so und so nicht nach Hause. Auf der anderen Seite ist das Schlange stehen keine wirklich interessante Geschichte, obwohl man es ja vom Einkaufen zuhause eigentlich gewohnt ist. Nach Anziehsachen habe ich allerdings bisher noch nicht anstehen müssen, schon gar nicht nach solchen, welche ich gar nicht haben will. Gelangweilt schaue ich mir die Birken an, die zwischen den Baracken stehen. Sie sind schon groß und scheinbar ziemlich alt, so wie die, die vor unserem Haus in Irchwitz stehen. Ach ja – Zuhause! Gerade ein paar Stunden von dort weg und schon Heimweh! Das liegt aber wohl im Augenblick erst einmal hauptsächlich an der merkwürdigen Situation, in der ich mich befinde.

In kleinen Schritten geht es voran. Nach einer halben Stunde ist schon die Eingangstür erreicht und ich kann ins Innere der Baracke schauen. Überall stehen Regale. Zwischen ihnen flitzen ein paar Soldaten aufgeregt hin und her. Mit leeren Händen verschwinden sie zwischen den Regalen, mit irgendeinem Bündel kommen sie wieder zurück. Was da so eifrig herumgetragen wird, ist kaum zu erkennen. Irgendwie sieht alles grün und grau aus. Langsam rücke auch ich voran. Noch ein paar Minuten, und ich stehe vor dem Tisch, auf dem all die Sachen abgelegt werden. Wortlos nimmt mir der „Kleiderkammerbevollmächtigte“, wie ich ihn kurzer Hand betitele, den Zettel aus der Hand. Er schaut routinemäßig darauf und verschwindet wieder zwischen den Regalen. Flüchtig schaue ich mich in der Baracke um. Die Wände sind schmutzig, sie wurden sicher vor sehr vielen Jahren einfach weiß getüncht und ein grauer, teils schief gestrichener hässlicher Ölsockel voller schwarzer Dreckstreifen, schließt die Wand nach unten hin ab. Hier gibt es sicher ne Menge Arbeit für einen Maler wie mich, denke ich und bekomme für einen Augenblick so etwas wie Hoffnung, meine Dienstzeit hauptsächlich mit Handwerksarbeiten über die Bühne zu bringen. Die werden schon sehen, dass ich fürs Militärische absolut nicht geschaffen bin und wenn sie wissen, dass ich handwerklich etwas kann, dann setzen sie mich bestimmt entsprechend anderweitig ein. Ja, so muss es werden! Jäh werde ich aus meinen Gedanken gerissen, als mir der Kleiderkammermann eine grüne Zeltplane mit Strichmuster auf den Tisch knallt. „Da machst du einen Sack draus und legst die anderen Sachen dann da rein!“ sagt er zu mir und verschwindet wieder zwischen seinen Regalen. „So ein alter Stoffel“ denke ich „ein bisschen freundlicher wäre auch nicht schlecht!“ Für Freundlichkeiten hat er aber keine Zeit. Sicher ist er sauer, weil wir mit Verspätung ankamen und sich dadurch seine Dienstschluss nach hinten hinauszögert. Als er zurückkommt hat er einen Anzug in der Hand, der aus dem gleichen gestrichelten Stoff gemacht ist wie die Zeltplane. „Dienstuniform“ sagt er und deutet mit dem Zeigefinger auf den ordentlich zusammengelegten Packen. Ich nicke. „Schon recht!“ denke ich „wenn er es sagt, wird’s wohl stimmen!“ Er kommt wieder und legt ein blaugraues Hemd auf die Plane. „Das gehört zur Ausgangsuniform!“ „Oh wie schick“ denke ich „Genau das, was 19 jährige gerne tragen!“ Es dauert nicht lang und die graue Ausgangsuniform kommt hinterher. Ein ordentlich zusammengelegter Packen aus hässlichem grauem Filzstoff wird vor mir aufgestapelt. „Das ist die Sommeruniform!“ Er verschwindet wieder, als er zurück kommt hat er noch solch ein graues Bündel bei sich. „Das ist der Wintermantel, aber den brauchst du jetzt noch nicht – erst ab Oktober!“ Tatsächlich bekommt er so etwas wie ein schäbiges Grinsen ins Gesicht. „Und das hier, das ist die BäFo!“ Er schmeißt eine große graue, merkwürdig anzuschauende Mütze zu den Utensilien hinzu. Nun grinst er noch mehr, weil er weiß, dass ich keine Ahnung habe was BäFo heißt. Dann geht alles recht schnell. Ein anderer Kleiderkammerbediensteter bringt einen schweren Stahlhelm. Wieder ein anderer bringt zwei Taschen in diesem gestrichelten Stoff. Zwischendrin werden noch ein paar Streifen dazwischen geworfen, welche auf der einen Seite grau und auf der anderen blütenweiß sind. „Das sind die Kragenbinden“ werde ich unterwiesen, „die müssen immer sauber sein und frisch gebügelt!“ „Aha, sehr schön“ denke ich „Ich und bügeln, das kann ja lustig werden!“ Mit einem lauten Krach landen ein paar abgewetzte Lederstiefel auf dem Tisch. „Hier, deine Knobelbecher!“ sagt der Kleiderkammermann. „Sehr schön sehen die ja nicht gerade aus, wer weiß wie viele Rekruten die schon vor mir an hatten?“

Das alles, und noch einiges mehr verschwindet in dem provisorischen Sack. Über die Spitzen hinweg ziehe ich ihn zusammen. Mit einem Ruck versuche ich ihn erst einmal hochzuheben, doch es misslingt. Der Sack ist einfach zu schwer. Nur nicht anmerken lassen, denke ich für mich, ja keine Schwäche zeigen. Noch einen kräftigen Ruck und es geht. Wie der Weihnachtsmann, taumle ich mit dem schweren Sack zur Tür hinaus. Jetzt verstehe ich den merkwürdigen Blick der anderen, als diese mit ihrem Sack durch die Tür schritten – die hatten genau so gekämpft. Ich schleppe meinen „Weihnachtsmannsack“ mit dem lustigen Strichmuster auf den Platz, genau an die Stelle, von der ich vorher kam. Den Sack lasse ich langsam zu Boden gleiten. Uff, erst einmal geschafft, was für ein schweres Ding! Wieder ist warten angesagt. Ruhig und gelassen stolziert Oberleutnant Holzmann durch die Reihen und mustert die Rekruten. Gern würde ich wissen, was er gerade denkt. Seine Miene ist versteinert. So ein Typ lässt seine Gedanken nicht nach außen dringen. Als er an mir vorbei geht, betrachte ich seine Schulterstücke und Auszeichnungen. Die Schulterstücke sehen schon beeindruckend aus. Auf silbernen Schnüren, oder was auch immer das darstellen soll, sind drei kleine Berge an der Außenseite positioniert. Sein Brustbereich ist mit vielerlei bunten Abzeichen behängt, deren Bedeutung ich nicht einmal erahnen kann. Während er, die Hände auf dem Rücken verschränkt, langsam weitergeht, strömen aus der Bekleidungsbaracke unaufhörlich weitere Rekruten mit ihren riesigen Tarnsäcken auf dem Rücken. Durch das Tor kommen plötzlich mit hoher Geschwindigkeit große olivgrüne LKWs geschossen. Sie drehen eine große Runde um den Platz und kommen seitlich von uns zum stehen. Die LKWs sind mir in ihrer Art bekannt, es sind „Ural“. Für genau diesen Typ hatte ich in Gera einen einwöchigen Sonderlehrgang gemacht. Die LKWs bleiben exakt in einer Reihe stehen. Die Fahrer steigen aus und bleiben neben ihren Fahrzeugen stehen. Oberleutnant Holzmann geht mit straffem Schritt auf sie zu. Die Fahrer stehen augenblicklich still. Als Oberleutnant Holzmann direkt vor dem einzelnen Fahrer steht, hält dieser seine Hand an das Käppi und gibt eine Meldung ab. Was genau gesagt wird können wir leider nicht verstehen, es dringen nur Wortfetzen zu uns herüber. Von jedem einzelnen nimmt er die Meldung ab und schreitet anschließend wieder zu uns herüber. Noch immer kommen Rekruten aus der der Baracke und solang dies geschieht, passiert sonst gar nichts. Die haben hier verdammt viel Zeit, denke ich, doch langsam tun die Beine wirklich weh. Langes sinnloses Rumstehen bin ich nicht gewohnt, aber daran werde ich mich wohl gewöhnen müssen! Endlich stehen alle auf dem Platz und warten darauf, dass endlich irgendetwas passiert. Der Holzmann setzt wieder an, eine Rede zu halten. „Genossen!“ beginnt er. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass er nicht weiß, wie er uns anreden soll. Auf jeden Fall bin ich kein Genosse, soviel ist sicher. Soldat bin ich auch noch nicht, oder mit dem heutigen Tag doch schon? Noch trage ich Zivil- Sachen, nur nicht mehr lange! „Sie haben nun ihre Ausrüstung für ihren Dienst in der NVA erhalten. Einige Dinge werden Sie später noch, während Ihres Dienstes in der Ausbildungskompanie erhalten. Sollten Sachen wider erwarten nicht passen, so melden Sie dies Ihrem zukünftigen Zugführern und tauschen die Sachen in der Kleiderkammer um.“ „Als erstes werde ich wohl die Stiefel umtauschen müssen“ denke ich „Solche alten Treter muss ausgerechnet ich erwischen!“ Der Oberleutnant fährt seine Rede fort. „Mit diesen LKWs werden sie nun zu ihren Unterkünften gebracht.“  Er zeigt auf die gerade erschienen Fahrzeuge. „Ich werde nun ihre Namen aufzählen, Sie begeben sich dann an die jeweiligen Fahrzeuge.“ Ein anderer Uniformierter reicht ihm ein Klemmbrett mit einigen Zetteln darauf. Er schaut kurz und routinemäßig auf die Zettel, dann beginnt er die Namen zu verlesen. Wie erwartet stehen die Namen alphabethisch auf den Listen. So bin ich, wie erwartet wieder einmal ganz zum Schluss dran. Holzmann liest nun einen Namen nach dem anderen. Er hat es dabei nicht besonders eilig. So wie sie aufgerufen werden, nimmt jeder seinen „neu erworbenen“ Sack auf und begibt sich an das ihm zugeteilte Fahrzeug. Selbst das Vorlesen der langen Listen dauert ewig und ich stehe mir wieder einmal die Beine in den Bauch. Der Oberleutnant kommt endlich zum Buchstabe „W“. „Wagner, Andreas“ höre ich und zucke zusammen. Ja, er meint mich. Wie automatisch packe ich meine Tarn- Sack und schleppe ihn zum nunmehr letzten Fahrzeug in der Reihe. Dort warten schon zwei Soldaten auf mich. „Los mach schon, das haben wir alles schon schneller gesehen!“ höre ich zur Begrüßung. „Ja, aber sicher nicht von mir!“ denke ich wütend, aber lasse mir nichts anmerken. Ein Soldat steht unten an der Ladefläche, ein anderer hockt oben und grinst auf das neue „Frischfleisch“ herab. „Los, los macht hin, wir haben keine Zeit zu verlieren!“ schreien sie uns an. „Oh, welch neue Töne!“ denke ich bei mir „Bisher hatten wir doch wohl alle Zeit der Welt gehabt.“ Der unten am Fahrzeug Stehende schnappt nach meinem Klamottensack und wirft ihn mit mir gemeinsam auf die Ladefläche, von wo aus der oben auf der Ladefläche Stehende zupackt und den Sack auf die Ladefläche zieht. Er schiebt ihn nach hinten ins Dunkel. Über eine Klappstiege, welche sich an der heruntergeklappten Rückwand des Ural befindet, steige ich nach oben. Dort sitzen bereits links und rechts auf Holzbänken kauernd, Rekruten mit versteinerter Miene. Gleichgültigkeit ist ihnen anzusehen. Nur noch wenige Momente und wir werden wohl da landen, wo man uns haben möchte. Ich setze mich auf eine freie Stelle auf der Holzbank. Die Bekleidungssäcke stehen mitten im Gang, genau zwischen uns. Die Letzten sind inzwischen auf das Fahrzeug gestiegen. Hinten wird die Bordwand hochgeklappt und mit nicht zu überhörendem Klacken verriegelt. Der Soldat, welcher sich schon vorher auf der Ladefläche befand, setzt sich zu uns. „Wird Zeit, dass ihr kommt“ begrüßt er uns mit schäbigem Lächeln. „Jetzt geht es erst einmal richtig in die Kaserne! Bis jetzt war das ja alles nur Kasperletheater“ droht er uns an. Vorn am LKW hört man die Fahrertür knallen. Noch ein paar Sekunden und ein Rütteln geht durch das Fahrzeug. Der Fahrer hat den Motor gestartet und gibt nun ordentlich Gas. Der Motor wird erst einmal mächtig auf Touren gebracht. Das schafft Respekt! Mit einem kräftigen Ruck fährt der LKW an. Uns schleudert es auf den mickrigen Holzbänken nach hinten. Der mitfahrende Soldat kann sich vor Schadenfreude kaum halten. „Was is´n los?“ fragt er „Schwächeanfall?“ Keiner antwortet. Man beginnt sich wieder zu ordnen und nimmt auf den grün gestrichenen Bänkchen erneut Platz. Der LKW hat inzwischen eine Geschwindigkeit erreicht, mit welcher er vorher schon durchs Tor gebraust war. „Nur Imponiergehabe!“ denke ich „ Merkwürdig nur, dass diese Art und Weise von den Offizieren geduldet wird.“  Die Fahrt geht weiter und der mitfahrende Soldat bekommt das Dauergrinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Er hat sich am Rand gut festgekrallt. Das Fahrzeug schießt inzwischen um solch scharfe Kurven, dass wiederum einige von den Bänken rutschen. Ein traumhaftes Schauspiel für unseren „Betreuungssoldat“. Er wird wohl nächtelang von nichts Anderem mehr träumen. „Die schlappe Muskulatur werden wir hier schon ein wenig aufbauen!“ Seine Kommentare hat er wohl vorher lang einstudiert. Die Fahrt dauert mittlerweile schon einige Minuten und langsam sieht man in den Gesichtern Ratlosigkeit. Es wird geflüstert. „Wie weit fahren die uns?“ „Das Nest hier ist doch so schon am Arsch der Welt!“ „ Das kann doch nicht noch weiter in die Tundra führen!“ Der Soldat bemerkt die Ratlosigkeit und gießt noch ein wenig Öl auf die Lampe: „Ja, habt ihr etwa gedacht, ihr seid schon am Ziel? Das geht doch jetzt erst mal richtig los!“ Seine Worte führen dazu, dass die Meisten nun noch deprimierter werden als sie es so schon waren. Er freut sich, sein Ziel ist erreicht. Mir kommt die lange Fahrt auch etwas merkwürdig vor, schließlich hatten wir doch das Kasernentor gegenüber dem Bahnhof schon gesehen und das war keinen Kilometer von dem anderen Tor entfernt. Zu dumm, dass man nicht hinausschauen kann. Die Plane wurde extra dicht verschnürt, dabei hatte man getrost hinten offen lassen können. Eigentlich müsste doch jedem klar sein, dass das hier alles nur ein dämliches Spiel zur Verunsicherung der Rekruten ist. Außerdem ist es inzwischen ja auch egal ob man nun noch Zehn Kilometer ins Niemandsland hinein muss oder nicht. Die Fahrt geht genauso flott weiter. Unzählige Kurven, Unebenheiten und was Fahrbahnen noch so hergeben können, sind zu spüren. Manchmal hat man sogar das Gefühl die Fahrt führt durch Gelände. Der LKW wird plötzlich sehr langsam, kippt stark nach vorn. Alle, die bisher hinten saßen, rutschen mit einem Schlag nach vorn. Dann steht das Fahrzeug für einen kurzen Moment wieder gerade und fährt nun steil nach oben. Nun rutschen die vorn Sitzenden auf die, welche gerade versuchten sich hinten wieder zu setzen. Dem Mitfahrer ist anzusehen: Das war wohl das Paradestück der Fahrt. Er freut sich so, er kommt heut Nacht vor lauter Freude sicher nicht zum Schlafen. Noch die letzten Kurven und Schlaglöcher der gesamten Region werden durchfahren, als plötzlich der LKW eine Vollbremsung macht. Alle Rekruten werden noch einmal nach vor geschleudert. Man hört nur noch Stöhnen und Schimpfen. Draußen ist Tumult. Man hört die Fahrertür zuschlagen, ein kalter metallischer Klang. Stiefelschritte knirschen neben dem LKW  und die Klappe wird wieder geöffnet. Jemand wirft die Plane mit einem Ruck nach oben. Grell dringt Licht ins Innere. Das erste was wir zu sehen bekommen sind Kiefern, keine wirkliche Überraschung! „Absitzen!“ nach der Tourtour tut man dies fast gerne. „Los, los, schneller, so ein müder Haufen!“ Wir springen von der Ladefläche. Die LKWs sind auf einem kleinen Platz nebeneinander eingeparkt. Endlich sehen wir das Gebäude, welches die nächsten 18 Monate unsere Unterkunft darstellen soll. Hunderte Gesichter hinter den Fenstern erwarten uns bereits.

 

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