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Kapitel 2 - Ankunft in Jänschwalde- Ost
Bummelzug ist wohl die richtige Bezeichnung für das Trauerspiel, welches die Deutsche Reichsbahn auf der Fahrt nach Jänschwalde wieder einmal bot. Teilweise in Schrittgeschwindigkeit ging es über das marode Schienensystem hinweg. Einerseits war man natürlich froh, denn um so später man dort war, umso besser, aber andererseits machte dieses Gezuckel auch irgendwie mürbe. Schon eineinhalb Stunden Verspätung und der Bahnhof von Jänschwalde noch immer nicht in Sicht. Draußen immer wieder der gleiche Anblick: mal Kiefernwäldchen, mal wieder Wiesen und ein anderes Mal ein großes hässliches Braunkohlegebiet. Diese Gegend ist wirklich das Letzte! Erst wenn man in solch eine Einöde gezwungen wird, sieht man wie schön unsere Greizer Gegend mit ihren Bergen und Tälern doch ist. Die Bremsen des Zuges kreischen laut, diesmal kommt es mir nur noch viel lauter vor. Als ich aus dem Fenster schaue, kann ich die furchtbaren Buchstaben sehen, die zusammen das Wort JÄNSCHWALDE – OST bilden. Obwohl die Fahrt mit der Deutschen Reichsbahn bis hier her eher eine Tortur war und es massive Verspätungen an allen Bahnhöfen gab, aussteigen will hier keiner. Was sind schon eineinhalb Stunden Verspätung gegen eineinhalb Jahre Grundwehrdienst? Wohl nur eine winzig kleine Verzögerung gegen die ewige sinnlose Zeit, welche nun auf uns zukommt. Nur sehr unwillig ergießt sich der bunte Strom der Ankömmlinge auf den Jänschwalder Bahnhof. Einigen fällt das Aussteigen besonders schwer, da ihr
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Der Bahnhof von Jänschwalde- Ost | Alkoholspiegel inzwischen besorgniserregende Werte angenommen hat. Sie torkeln aus dem Zug und zünden sich erst einmal eine Zigarette an. Unbeholfen fummeln sie an „Club- Kabinett- oder gar Karo- Schachteln“. Die allgemeine Rauchbereitschaft steckt an und so werden überall die Schachteln gezückt. Die Alkoholisierten trauen sich einfach, die Anderen machen es zögernd nach. Da stehen sie nun, die zukünftigen Beschützer der Deutschen Demokratischen Republik, teils schwankend, teils verunsichert und zu zirka einhundert Prozent unmotiviert. Um uns herum sammelt sich plötzlich uniformiertes Personal in grauen und grünen Uniformen. Manche haben eine Maschinenpistole umhängen - Aha, Rekrutierung mit Waffengewalt! Sie stehen um uns herum und starren uns an. Wir starren zurück und haben keine Ahnung wer diese Leute sind und was ihr Schulterstück für einen Dienstgrad anzeigt. Einige Minuten stehen wir nun plan- und ziellos herum, warten auf die Dinge, welche da nun kommen sollen. Ein paar Typen in typischer „Einstrich- Keinstrich“- Uniform grinsen uns mit Zigarette im Mundwinkel abschätzig an. Sie sind noch ziemlich jung, so kann man, auch wenn man absolut keine Ahnung von den Dienstgraden hat, von einem recht niedrigen Stand ausgehen. Ihre Augen leuchten wie die von Raubtieren: „Endlich Frischfleisch!“ symbolisiert ihr Blick. Ein Typ in grauer Uniform, geflochtenen Schulterstücken und ein wenig „Lametta“ an der Jacke schreitet zielstrebig auf uns zu. Sofort schmeißen die vorher noch grinsenden Typen ihre Zigaretten zu Boden und treten sie mit ihren klobigen Lederstiefeln aus. Sie stehen still, während der bunte Haufen von Rekruten immer verunsicherter wird oder gelangweilt in die Gegend schaut. „In Zweierreihe angetreten“ brüllt der offenbar verdienstvolle Offizier und erscheint gleich noch ein Stück größer und würdevoller. Sofort geht ein völlig unkoordiniertes Gewusel durch die Massen, keiner weiß wo er hingehen soll und mancher dreht sich bloß im Kreis. Ein Betrunkener bringt es auf den Punkt und fragt: „Sollen wir uns auch an die Händchen fassen?“ Alles zuckt zusammen. Der Offizier blickt verächtlich zu dem, der es wagte, den Mund zu öffnen. Sein Blick sagt alles: „Warte nur ab Bürschchen, wenn wir soweit sind, wird dir nicht mehr zum Scherzen zumute sein!“ Nach ewigem Hin und Her ist es dann doch endlich geschafft, alles steht in formatierter Zweierreihe, für den Abmarsch bereit. Marschieren hat aber noch keiner gelernt und so gibt unser neuer Anführer bloß kurz einen Wink mit der Hand und die Massen strömen ihm hinterher. Wichtig, ganz wichtig laufen die „Begleiter“ mit Maschinenpistole im Gleichschritt neben und hinter uns her. Vom Bahnhof aus, über die Gleise ist das Haupttor der Kaserne zu sehen, aber unerwarteter Weise laufen wir in völlig entgegen gesetzte Richtung. Der Zug aus „Noch- Zivilisten“ stolpert durch ein Neubaugebiet, rechts die Neubauten, links ein älteres Gebäude mit der Aufschrift „Club“. „Ah“, tönte es aus den Reihen „Hier geh´n wir dann immer saufen!“. Der Offizier überhört die schändlichen Worte einfach, die Begleiter können es aber nicht überhören und antworten: „Macht euch bloß keine falschen Hoffnungen!“ und „Da kommt Ihr nie rein, das ist nur für Offiziere!“. „Na gut“ denke ich „habe sowieso keinen Bedarf!“. Trotzdem ärgert es mich „Sind wir Dreck?“. Ja wir sind Dreck, und der Dreck marschiert Richtung Kasernentor. Mitten in Jänschwalde gibt es noch ein Tor, denn ein Teil der Kaserne befindet sich auf der anderen Seite, östlich der Schienen. Wir biegen hinter dem Club nach links ab und laufen direkt auf das braune Tor zu, welches eilig zur Seite geschoben wird. Die Plaste- Rolle auf der es gleitet, knirschelt im Schmutz. Links vom Tor steht das kleine „Pförtnerhäuschen“ mit seinem merkwürdigen Tarnanstrich. Zwei Diensthabende sitzen darin und grinsen uns an. Lang mussten sie warten, bis endlich das „Frischfleisch“ aus der gesamten Republik eingetroffen ist. Äußerst widerwillig schreiten wir durch das Tor. Irgendwie hat das etwas Symbolisches. Einmal hindurch geschritten gibt es kein Zurück mehr, so aber auch nicht. Es gibt so oder so kein Zurück, da kann man sich drehen und wenden wie man will!
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Am KDL- Süd in Jänschwalde- Ost | Rechts, gegenüber des „Pförtnerhäuschens“ stehen ein paar Baracken. In ihnen herrscht geschäftiges Treiben. Wir bleiben dazwischen stehen und warten wieder einmal. Warten scheint hier das ganz große Thema zu sein, nur nichts überstürzen! Uns ist es egal, solang man wartet, kann einem ja noch nichts passieren! Wieder versuchen sich einige eine Zigarette ins Gesicht zu schieben, doch diesmal gehen die "Begleiter" dazwischen. "Geraucht wird, wenn wir es erlauben, und jetzt erlauben wir es gerade nicht - klar?!" Schnell stecken die meisten ihre Fluppen wieder weg. Doch diejenigen, welche sich jenseits der 1- Promille- Grenze befinden, wollen das nicht hören. Einer der maschinenpistolenbestückten Uniformträger springt dazwischen und schlägt einem potenziellen Raucher die Zigarette aus dem Gesicht. Die Lage eskaliert. "Hey, du Blödmann", schreit der vermeidlich Geschädigte. "was soll denn das?" er will dem Angreifer am liebsten sein schickes Käppi vom Kopf schlagen, traut sich aber nicht so recht. Bevor nun der Uniformierte wiederum dem zukünftigen Soldaten an den Hals geht, winkt der Offizier ab und rettet so fürs erste die Lage. Nun endlich stellt sich der mit scheinbar viel „Lametta“ dekorierte Offizier auf den kleinen Platz hinter dem „Pförtnerhäuschen“ und lässt uns in Reihen antreten. Alles geht schleppend, wieder läuft jeder wild durcheinander. Der Offizier bleibt ganz ruhig, er zeigt, dass er verdammt viel Zeit hat. Eigentlich hatte ich mir das viel schlimmer vorgestellt. Brüllen die Typen nicht gleich von Anfang an, wenn etwas nicht läuft? Scheinbar lassen sie uns gegenüber noch ein wenig Toleranz walten. Ein völlig betrunkener Kerl mit zerzaustem Haar wankt in Richtung des „Lamettamanns“. „Du ssssiehsd aber schick aus mit deinen vielen Zeuchsss da an der Jacke!“ lallt er ihm entgegen. Sofort wird der Wankende von zwei Uniformierten weggezogen und wieder in die Reihe gestellt. Dort steht er nun, noch immer wankend und grinst die zukünftigen Vorgesetzten an. Sie ignorieren ihn, solche Vorfälle scheinbar gewohnt, einfach und ich staune über die Toleranz welche ihm gegenüber gewahrt wird. Eigentlich hätte ich vermutet, dass es auf solche Zwischenfälle hin gleich in den Knast geht. Der Betrunkene mit der Wuselfrisur gibt nicht so schnell auf, inzwischen hat er jegliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen: „Ihr habt hier doch alle ein an der Waffel!“ schreit er, kaum noch Herr seiner Sinne, „Lasst mich wieder nach Hause, ihr seid doch alle doof!“ Wir sind alle hin und her gerissen, auf der einen Seite vor Schreck über das eben gesagte, zur Salzsäule erstarrt. Auf der anderen Seite amüsieren wir uns köstlich und freuen uns, dass einer den Mut hat, sich derart zu äußern. Der Offizier wiederum würdigt den schwankenden Wuselkopf keines Blickes und ignoriert seine Worte einfach weiterhin. Wir können es kaum glauben. Hinter mir wird gewispert: „Solange wir nicht vereidigt sind, können die uns noch nichts…!“ und „Deshalb machen die nichts gegen den…!“ Das kann ich mir irgendwie nicht so richtig vorstellen, obwohl – noch könnte man ja Bausoldat werden – ohne Waffe, aber dafür länger. Nein, den Gedanke schiebe ich von mir. Noch länger als eineinhalb Jahre, das ist doch schon so eine Ewigkeit! Jäh unterbricht mich der Offizier mit lauter Stimme in meinen Gedanken. „Liebe Genossen!“ beginnt er seine Rede. „Wieso Genossen?“ denke ich, „ich bin doch gar nicht in der Partei!“ und muss in mich hinein grinsen. „Vor Ihnen liegt ein neuer Abschnitt ihres Lebens, der aktive Wehrdienst! Doch bevor ich fortfahre, möchte ich mich ihnen kurz vorstellen: Mein Name ist Oberleutnant Holzmann, ich bin der zukünftige Kompaniechef ihrer Ausbildungskompanie.“ Wieder wankt der angetrunkene Zauselkopf nach vorn: „Wer bist du, Leutnant Holzkopf?“ Das war zuviel! Oberleutnant Holzmann gibt den anderen Uniformierten eine kurze Anweisung. Der Widerspenstige wird von links und rechts gepackt und auf einen nahe stehenden Jeep geladen. Der Jeep braust davon. „Den werden wir wohl nie wieder sehen!“ raunt es durch die Menge „Das gibt bestimmt 1 Jahr Schwedt!“ Alle sind froh, selber diesen analkoholisierten Mut nicht gehabt zu haben. Oberleutnant Holzmann hat sich wieder gefasst und beginnt seine Rede fortzusetzen. „Bisher konnten Sie behütet durch die militärische Macht des Sozialismus, im Frieden aufwachsen…“ Ich muss gähnen. Immer die gleichen Reden. Da kann ich ja gleich die erste Seite des „Neuen Deutschland“ lesen, die ist mindestens genauso interessant, gleich kommt bestimmt irgendetwas vom XI. Parteitag der SED! Oberleutnant Holzmann sülzt seine Rede vor uns herunter. Hundert Rekruten stehen mit versteinerter Miene vor ihm. Man kann förmlich zusehen wie schwülstige, abgedroschene Worte zu ihren Ohren auf der einen Seite hinein und auf der anderen Seite wieder heraus gleiten, ohne dass auch nur ein Bruchteil des Inhalts im Gehirn zurückbleibt. „… sie sind nun Mitgestalter der auf den Frieden und das Wohl des Volkes gerichteten Politik unseres Staates, wie sie auf dem XI. Parteitag der SED erneut bekräftigt und beschlossen wurde…“ Aha, da war sie, die obligatorische Phrase des „XI. Parteitag der SED“! Wenn man sich auf eins verlassen kann, dann darauf, dass dies irgendwo mit erwähnt wird. Die Rede geht weiter und ich habe das Gefühl ständig die gleichen Worte zu hören. Würde der Mann dort vorn nicht solch eine mächtig anmutende Uniform tragen, ich könnte denken, der Direktor unserer Irchwitzer Schule steht dort und hält seine übliche Rede zum immer montags stattfindenden Morgenappell. Ich betrachte Oberleutnant Holzmann alias Holzkopf etwas genauer. Durch seine voluminöse Uniform wirkt er äußerst respekteinflößend und trotz seiner zirka 1,65 Meter Körpergröße hat man das Gefühl, als würde dort ein 2 Meter- Mann stehen. Im Gesicht sieht er ein wenig wie der österreichische Sänger Falco aus, nur etwas dicklicher, und ich muss gestehen, plötzlich unheimlich Respekt vor diesem Mann zu haben. „Das ist bestimmt ein ganz Großer“ denke ich, „einer, mit dem man sich es hier auf keinen Fall verderben darf“. Die Rede ohne wirklichen Inhalt dauert noch zirka 15 Minuten, dann schreitet ein weiterer, nicht ganz so Lametta- behangener Offizier nach vorn. Er stellt sich als oberster Verantwortlicher der militärischen Kleiderkammer vor. So wie er dies betont, könnte man wirklich denken, dass er ein richtig wichtiger Typ ist. Er verteilt die Karten, welche zur Einkleidung dienen sollen. Das Verteilen der Karten dauert wieder eine kleine Ewigkeit, mir schlafen langsam die Füße ein. Besteht denn der ganze Haufen hier nur aus warten, warten und nochmals warten? Noch einmal beginnt er eine Rede und möchte uns darauf aufmerksam machen, dass nun der zivile Teil unseres Lebens vorerst beendet ist und wir nun mit Stolz unsere Uniform tragen dürfen. Selbige ist auch auf Heimurlaub nicht abzulegen… Ich höre gar nicht mehr hin. Soll doch kommen was will! Ich bin bloß noch müde und will hier weg! Er verweißt uns noch auf die Baracken, in welchen wir unsere Bekleidung erhalten sollen. Dort stellen wir uns wieder einmal an und – warten!
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