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Sandmeer, Kiefernmeer, nichts mehr

 - von einem Irchwitzer, der auszog sein sozialistisches Heimatland verteidigen zu müssen -

 
Kapitel 1 - Die Abfahrt

 

Eigentlich ein schöner Tag, dieser 3. Mai 1989. Als mich mein brauner Plastikwecker vom VEB Ruhla daran erinnert, dass es nun tatsächlich soweit ist, und es auch keine Chance gibt, der Realität zu entfliehen. Vielleicht könnte man ja die Zudecke noch einmal über den Kopf ziehen, oder diesem blöden brauen Plastik- Ding  einen Ordnungsgong verpassen, auf dass es wohl ewig schweigen möge. Nein, dem real existierenden Sozialismus ist nicht zu entfliehen und schon gar nicht der staatsbürgerlichen Pflicht ihn mit Waffengewalt zu verteidigen. Langsam stecke ich den ersten Fuß aus meinem Bett. Bisher war es mir noch so weit weg erschienen, gar nicht reell, dass es eines Tages wirklich soweit sein könnte. Eigentlich ist mir wie heulen zumute. Weg von Zuhause das war doch noch nie so mein Ding. Ich denke da nur an meine Ferienlager- Zeit oder an diese schreckliche Kur, nur weil ich der Meinung der der Schulärzte nach zu dünn war! Stundenlang habe ich dort in der Uckermark auf einer Treppe gesessen und geheult weil ich wieder nach Hause wollte. Und nun? Nun bin ich 19 Jahre alt und kann nicht heulen, schließlich bin ich erwachsen, nur fühle ich mich heute leider gar nicht so. Eher fühle ich mich wie jemand, der aufs Schafott geführt wird…! Ach was, weg mit den dunklen Gedanken, raus aus den Federn und los! Schließlich habe ich doch den großen Vorteil überhaupt: Mich haben sie jetzt gezogen und wenn die anderen mit 26 gezogen werden, habe ich es bereits hinter mir. Man muss sich die Geschichte nur schön reden und schon geht es! Ich schlüpfe in die graue „Westjeans“ und ziehe mir das tolle Hemd vom „Fidschi- Markt“ drüber, welches wir auf Grund seiner ursprünglich merkwürdigen Farbe schwarz gefärbt haben. Noch ein letztes Mal in Zivil – ein schönes Gefühl!  So, nun wird es höchste Zeit! Ich schaue mich noch ein letztes Mal in meinem Zimmer um. Alles ist ordentlich und aufgeräumt – ein ungewohnter Anblick. In den nächsten 18 Monaten werde ich hier wohl wenig Zeit verbringen. Nun schnell das Zimmer abgesperrt und runter zu den Eltern. Im Treppenhaus treffe ich unseren Mieter Herr Meckert. Er fragt mich “Na, wohin denn so eilig?“ „Zur Armee!“ antworte ich hastig, während ich die Treppe in Zweierstufen nehme. Eigentlich weiß er es längst, unangenehme Neuigkeiten verbreiten sich schnell, aber fragen muss man schon noch mal, auch der Dorfklatsch muss mit bestätigten Informationen aufwarten. Nun hinein in die Wohnung meiner Eltern und schnell gefrühstückt. Mutti hat mir schon den warmen Kakao und drei Stück Bäckerkuchen hingestellt. Lecker, das wird mir die nächsten Monate fehlen! Vati steht schon im Flur bereit, er fährt mich hin, begleitet seinen Sohn zum Unvermeidlichen. Wir gehen noch einmal durchs Treppenhaus mit seinem schicken Leimfarbensockel und steigen in den beigen Trabbi, der im Hof schon bereitsteht. Ich drücke Mutti noch mal kurz, steige in den Trabbi und los geht es. Mit einer blauen Abgaswolke verabschiede ich mich von Irchwitz. Im Rückspiegel sehe ich unser Haus immer kleiner werden, bis es ganz verschwindet.

In Greiz geht es über den Rathenauplatz in die „Straße des ersten Mai“ und über den Puschkinplatz. Wir tuckern am „Magnetkaufhaus“ vorbei, knattern über die Friedenbrücke und stehen viel zu schnell am Greizer Busbahnhof. Dort stehen schon eine Menge unbekannter junger Zwangsrekruten, alle noch in Zivil, kunterbuntes Allerlei, aber das wird sich bald ändern! Manche haben schon einmal sicherheitshalber die Haare schneiden lassen. Sie sehen unbeholfen aus mit ihren neuen Frisuren. Die „Radkästen“ um die Ohren stehen ihnen nicht wirklich. Einige von ihnen habe ich schon mal irgendwo mit langen Haaren oder mit hochgestylten Popper- Frisuren gesehen. Vielleicht in der Disco in der „Brücke“ oder im „Burgkeller“ in Elsterberg, oder auch in Görschnitz im „Roten Stern“, unserer Lieblingsdisco. Ich kann mich nicht erinnern. Aber egal, erst einmal Haare runter, bevor es der verhasste Armeefriseur tut, den zwar keiner kennt, aber von dem man doch so viele Horrorgeschichten gehört hat. Unter den vielen fremden Gesichtern erkenne ich zwei Bekannte. Stefan Ortig und Fabian Grünler, die beiden waren mit mir 10 Jahre lang zusammen in die Klasse gegangen. Ein bisschen bekomme ich Hoffnung. Vielleicht wird es ja doch nicht so schlimm, vielleicht kommen die Beiden aber auch ganz woanders hin, wer weiß. Wir begrüßen uns und bekommen tatsächlich so etwas wie ein freudiges Lächeln ins Gesicht. Die Beiden fahren tatsächlich mit mir nach Jänschwalde- Ost. So ein Zufall, so ein Glück, auch wenn wir keine Ahnung haben wo das sein soll!  „…am Arsch der Welt“ hören wir jemanden murmeln und „irgendwo bei den Polacken“. Naja, egal wo das ist, dass es dort nicht gerade toll wird, haben wir uns auch so denken können. Ein orange farbiger Ikarus- Bus fährt vor. An der Frontscheibe steckt ein Pappschild „Sonderfahrt“. „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo…“ aber erst einmal geht es mit dem Schienenersatzverkehr nach Gera. Die Türen öffnen sich und das Einsteigen wird unvermeidlich. Ein paar Spinner in Uniform stellen sich wichtig als unsere Begleiter vor. Ihre Schulterstücke sind mir völlig unbekannt. Ob Soldat oder Armeegeneral, in Uniform sehen die doch alle gleich aus! Was sie uns erzählen, höre ich nur mit halbem Ohr. Berufsunteroffiziere wollen sie sein, aha, die Sorte von Soldaten welche hinter vorgehaltener Hand als die lächerlichsten in der NVA gelten! Vor Uniformen dachte ich eigentlich immer irgendwie Respekt zu haben, aber diese beiden Kasper dort sehen wirklich genau so lächerlich aus, wie von ihnen immer erzählt wurde. Beinahe muss ich mir ein Lachen unterdrücken, als sie uns mit gewichtiger Miene in ihre Unterlagen aufnehmen. Keiner fehlt, dann kann es ja losgehen.

Mein Vater drückt mich zum Abschied. Erst jetzt sehe ich, dass er Tränen in den Augen hat. Er weiß was in den nächsten Monaten auf mich zukommt, schließlich musste er wegen der Kuba- Krise diesen Irrsinn drei Jahre lang mitmachen. Ich nehme auf einem der hellbraunen Kunstledersitze Platz. Meine blaue Reisetasche wurde bereits verstaut. Als der kastenförmige Ikarus mit schwarzer
der Ikarus fährt am Greizer Busbahnhof ab
Dieselwolke startet, kommt es mir trotz des schönsten Sonnenwetters so vor, als wenn es draußen regnet. Ich sehe noch den Bahndamm, das Obere Schloss und die Freiheitsbrücke und ganz hinten sehe ich meinen Vater winken, mit seiner braunen Rundstrickhose und der beigen Sommerjacke. Dann sind wir aus Greiz verschwunden. 18 Monate weg von Zuhause, und wer weiß, wann wir Greiz wieder sehen werden.

Im Bus gehen sofort die Gespräche los. Jeder weiß es besser als der Andere und jeder kennt einen, welcher einen kennt, der auch schon dort war und wirklich Schlimmes erlebt hat. Mancher war 3 Monate nicht Zuhause, ein anderer kam gar nach Schwedt, wegen irgendeiner Kleinigkeit die er dort begangen haben soll. Ich höre gar nicht hin, obwohl, ein bisschen schon und um ehrlich zu sein, macht es mir mächtig Angst. Lächeln und immer nur lächeln, Angst zeigen ist was für echte Weicheier! Mir macht das doch alles nichts aus…! Nur gut, dass keiner in mich hineinschauen kann. Langsam wird es zur Wirklichkeit, das man auf dem Weg in die „Gefangenschaft“ ist und doch wirkt es alles ein bisschen wie ein böser Traum, aus dem man einfach wieder aufwacht und alles ist plötzlich wieder gut.

Am Geraer Hauptbahnhof steigen wir nach einer knappen Stunde Fahrzeit wieder aus. Unsere beiden Begleiter lassen uns nun nicht mehr aus den Augen. Immer wieder wird durchgezählt, dass es sich nur ja keiner anders überlegt und abhaut. Das würde für die Beiden wohl die Todesstrafe bedeuten, oder halt Schwedt, was wohl noch schlimmer sein muss. Egal, die Beiden nehmen ihre Arbeit auf jeden Fall sehr wichtig, müssen sie auch, denn etwas anders können sie offensichtlich nicht. Wir laufen durch den Hauptbahnhof wie ein Haufen wilder Hammel. Kreuz und quer durcheinander, ohne System. Vielleicht noch ein letztes Aufbegehren gegen den zukünftigen Gleichschritt, dem wir nicht mehr entkommen werden. Wir steigen die Treppen hinauf und sitzen ganz schnell in schmuddeligen Waggons der Deutschen Reichsbahn mit ihren roten Ledersitzen. Der Zug geht Richtung Leipzig und die Gespräche über Bekannte, welche irgendwann einmal Opfer der NVA waren, werden immer heftiger. Wahrscheinlich versucht man damit seine Angst zu verdrängen, nach der Devise: „wenn es den anderen so schlimm erging, vielleicht wird es bei mir weniger schlimm!?“ Trotzdem, die Nerven beruhigt das alles nicht, im Gegenteil. Bei einigen werden die Gespräche langsam etwas undeutlicher. Auf den kleinen Reichsbahn- Tischchen erkennt man schon die ersten Wodka- Flaschen, die Kleinen zwar nur, aber ihre Wirkung entfalten sie auch am frühen Morgen. Die beiden Begleiter in Berufsunteroffizier- Uniform finden das gar nicht lustig und ziehen ein böses Gesicht. Tun können sie leider nichts, denn noch sitzen im Zug nur Zivilisten, die ihrer Befehlsgewalt nicht wirklich unterstellt sind. Fast ärgere ich mich, nicht auch so ein „Rohr“ mitgebracht zu haben, aber Schnaps ist halt nicht so mein Fall. Im Zug kommt langsam Stimmung auf. Manche singen schmutzige Lieder und unsere Aufpasser werden nervös, versuchen zu maßregeln, aber werden einfach ignoriert. Ich sitze mit meinen Klassenkameraden in einem Abteil. Wir reden über alte Zeiten und über unsere Freundinnen. Erstaunt stellen wir fest, dass wir alle drei schon verlobt sind. Stolz streckt jeder seinen linken Ringfinger mit dem Verlobungsring in die Höhe. Oh ja, das gibt Sicherheit in diesen unsicheren Tagen. Ich denke an Isabelle und ihr Versprechen, mir treu zu bleiben für ganze 18 Monate in der Fremde. Ich hatte sie gebeten mit mir Schluss zu machen, wenn sie der Meinung ist, es nicht so lange aushalten zu können. Aber sie hatte versprochen, zu mir zu stehen für die lange Zeit, gar kein Problem. Gern hätte ich es geglaubt, aber irgendwie im Inneren fühlte ich, dass eine 16- jährige die Tragweite eines solchen Versprechens nicht einhalten kann. Wird man allerdings vom Staat an seine staatsbürgerliche Pflicht erinnert, klammert man sich an jeden Strohhalm, so klein er auch sein mag und ich glaube ihr. Es geschehen doch immer Wunder, so hofft man! Von den Anderen erfahre ich wie toll ihre „Frauen“ sind und dass sie mit Sicherheit treu sein werden. Ich sage: „OK, gehen wir eine Wette ein. Wetten wir nur ums Recht, welche der Frauen die 18 Monate durchhält. Bei meiner wette ich dagegen!“ Stefan und Fabian sehen mich entgeistert an. „Wieso wettest du dagegen?“ fragen sie mich. Ich antworte nicht, in der Hoffnung selber Unrecht zu haben und mir das Gegenteil zu beweisen. Mit meinem Cousin habe ich die gleiche Wette abgeschlossen, nur mit ihm um eine Flasche Sekt. So wird er wohl die nächsten Monate die Augen in den Diskos offen halten und ein bisschen aufpassen. Ich mag gar nicht daran denken! Die Flasche Sekt spendiere ich gerne, wenn sie bloß zu ihrem Wort stehen würde!

Endlich sind wir in Leipzig am Hauptbahnhof angekommen. Wir steigen gequält aus dem Zug. Unsere „Aufpasser“ möchten am Liebsten überall gleichzeitig sein. Einigen ist das alles ziemlich egal und so torkeln sie schon mächtig über den Bahnsteig. In Leipzig wird aufgeteilt und wir fahren in veränderter Konstellation weiter. Richtung Cottbus geht es nun, und die Gespräche im Zug werden immer leiser, umso mehr es in Richtung der Zwangsanstalt geht. Mit uns fahren nun nicht mehr ganz so viele Angetrunkene, aber dafür wird die Stimmung immer depressiver. Manchem wird jetzt erst wirklich klar, dass seine Jugend mit diesem Tage endet und stiert nur noch schweigend in die vorbeirasende Landschaft. Am Cottbusser Hauptbahnhof führen uns inzwischen andere, aber fast völlig ähnlich anmutende Berufsunteroffiziere in einem kleinen Regionalzug, welcher Richtung Guben fährt. Guben, an der  Frieden- Neiße- Grenze, jeder hat im Geografie- Unterricht davon gehört, aber keiner hätte je geglaubt, dass er wirklich einmal in die Nähe dieses „Provinz-Nestes“ muss. Wir fahren durch eine flache Landschaft voller Felder und Kiefernwälder. Ein sturzbetrunkener Zwangsrekrutierter äußert sich zur Landschaft: „Hab ich doch gleich gesagt: Sandmeer, Kiefernmeer, nichts mehr…“ Er legt sich zurück und schläft noch ein Stück. Ein Stück „Ruhe vor dem Sturm“!

 

 

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Kommentare (2)
Marko aus Greiz schrieb: (2005-11-06 00:44:38)
Schön geschriebene Story! Wann gibts denn die versprochene Fortsetzung?
Andreas (Webmaster) aus Irchwitz schrieb: (2005-11-06 00:43:45)
Ich schreibe schon eifrig am 2. Kapitel und werde versuchen jede Woche ein Kapitel ins Netz zu stellen. Ich danke Dir für Dein Interesse und weiterhin viel Spaß noch beim Lesen der Geschichte!